Eine schreiende Mutter

Schreiende Mutter Frau schreit

Aktualisiert am: 03/11/2024

Ich bin eine schreiende Mutter und stehe dazu. Der Beziehung zu meinem Sohn tut das keinen Abbruch – im Gegenteil. Ein Plädoyer für Streitkultur.

Wenn mich mein Sohn tierisch aufregt, werde ich laut. Erst macht sich eine brodelnde Hitze in meiner Bauchgegend breit, dann steigt dieser Wutschwall langsam nach oben. Unvermeidlich wie ein Vulkanausbruch. Dann ist die Wut größer als ich.

Da gibt es keinen Verstand mehr und keinen Raum zum Reflektieren. Ich bin eine schreiende Mutter und stehe dazu. Und wisst ihr was? Das fühlt sich verdammt gut an.

Ganz schön provokant, mögen manche denken. Und obendrein total unpädagogisch.

Ich finde das aber menschlich. Oft sind wir Eltern extrem gefordert und befinden uns an der Belastungsgrenze. Dass einem dabei mal die Sicherungen durchbrennen können, ist doch klar. Und ich meine, wir dürfen das äußern.

Kinder haben ein Recht auf wütende Eltern

Einige halten ihre Gefühle zurück aus Angst, schlechte Eltern zu sein. Doch Kinder merken, wenn wir etwas vor ihnen verstecken. Und sie provozieren teils so lange, bis wir es endlich rauslassen. Das ist befreiend!

Dadurch entsteht unverfälschte Begegnung: authentisch und frei von Beschönigung. Manchmal gibt es eben nichts zu beschönigen. Manchmal ist es halt scheiße. Das will ich ausdrücken. Und zwar laut. Ich zeige mein wahres Gesicht – mein wütendes Gesicht. Der Beziehung zu meinem Kind schadet das nicht. Im Gegenteil. Es bringt uns näher zusammen.

Das funktioniert aber nur, wenn beide Seiten ihre Wut gleichberechtigt ausdrücken dürfen. Soll heißen: Keiner schreit den anderen nieder, sondern ihr schreit euch auf Augenhöhe an. Ohne das Gesagte persönlich zu nehmen, mit Respekt vor dem Selbstausdruck des anderen. Ihr gebt euch damit den Raum, so sein zu dürfen. Eure „hässliche“ Seite zu zeigen. Jeder Beteiligte übernimmt Verantwortung für seine Wut. Das ist gelebte Streitkultur.

Eine schreiende Mutter: Können wir das aushalten?

Wir können und sollten Kinder daran heranführen. Weil Konflikte Teil unsere Lebens sind. Selbst wenn wir sie nach allen Regeln der Kunst vermeiden, tauchen sie immer wieder auf. Wie wollen wir verhandeln, uns behaupten und abgrenzen? Dazu brauchen wir Kontakt zu unserem Ärger – und zu dem anderer Menschen.

Gesunde Streitkultur bedeutet, nicht zu kuschen, sobald jemand laut wird. Sich bei Meinungsverschiedenheiten nicht beleidigt zurückzuziehen und über die ungerechte Welt zu klagen. Gesunde Streitkultur besagt: Ich kann meine und deine Wut aushalten.

Wut ist kraftvoll und lebendig

Dahinter liegt ein Goldtopf. Er ist gefüllt mit den Fähigkeiten, sich zu entschuldigen und wahrhaft zu verzeihen: Ohne dem anderen sein Fehlverhalten ewig nachzutragen – oder gar sich selbst. Der Weg dahin erfordert Mut. Denn er führt mitten durch die Wut hindurch.

Wir dürfen einen neuen Blick auf sie werfen. Sie ist ein missachtetes Gefühl, dem wir einen negativen Stempel aufgedrückt haben. Weil wir uns vor ihrer Kraft fürchten. Wir wollen sie nicht spüren, nicht so sein. Meist haben wir schon in der Kindheit gelernt, diesen Aspekt zu unterdrücken. Das ist die Wurzel von Aggressionsproblemen.

Umarme die Rebellion

Wir haben nie gelernt, mit unserer Wut umzugehen. Da hängt so viel Angst mit dran: Was, wenn mich derjenige nicht mehr mag? Das ist die Angst eines Kindes, das nie erfahren hat, sich mit seiner Wut sicher zu fühlen. Diese Emotion durfte nicht sein. Darum ist sie für viele gleichbedeutend mit Weltuntergang, Verlassenwerden, Sterben.

Aus Angst vor der Wut hören wir nicht, was sie uns sagen will. Dabei steckt in dieser Emotion so viel Kraft und Lebendigkeit. Richtig eingesetzt kann sie unser Kompass sein: Die Wut zeigt deutlich, was unstimmig erscheint und wo unsere Grenzen überschritten werden. Für jede Art von zwischenmenschlicher Beziehung ist das wesentlich.

Ich will, dass mein Sohn mich so erlebt. Er soll wahrnehmen, dass seine Mutter keine ewig säuselnde Ja-Sagerin ist, die alles hinnimmt. Ich bin kein braves Muttchen. Sondern ein leidenschaftlicher Mensch, der seine Gefühle ausdrückt. Wenn es die Umstände erfordern, auch schreiender Weise.

Dem Sohn steht das genauso zu. Wut ist Teil unserer Dialoge. Wir schreien uns an. Fetzen fliegen – Türen knallen. Und dann, wenn der ganze Zorn verraucht ist, sind wir uns näher als zuvor.

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

Das könnte dich auch interessieren

Verhöhnt, beschimpft, bedroht

Verhöhnt, beschimpft, bedroht

Frauen werden nicht ernst genommen als Opfer sexueller Gewalt. Sie müssen ankämpfen gegen das ewige: „Aber sie hat es doch so gewollt…“

Bedürfnisorientiert? Ohne mich!

Bedürfnisorientiert? Ohne mich!

In bedürfnisorientierten Gruppen erziehen sich Eltern zu besseren Menschen. Das geht völlig am Grundgedanken der Bewegung vorbei.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
19 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Charlette
Charlette
5 Jahre zuvor

Wut heraus zu lassen ist per se nicht falsch. Nur kann es sein, wenn sich der Verdtand ausschaltet und nur die Emotion übernimmt, dass man Dinge sagt und tut, die man später bereut. Und vll auch nicht zurück nehmen kann. Und, man kann sich auch ohne Wutausbrüche durchsetzen. Meine Mutter hatte früher oft Wutausbrüche. Tagelange. Mitten in der Nacht, am Morgen und am Abend. Schon bei Kleinigkeiten explodierte sie. Das war oft die Hölle und führte eher dazu, dass sich die Familie vor ihr zurück zog. Näher gebracht hat es uns nicht. Im Gegenteil. Und heute, wenn Frauen schreien, sorgt… Weiterlesen »

Michaela Huber
5 Jahre zuvor

Danke für den ehrlichen Beitrag. 🙂

Michaela Huber
5 Jahre zuvor
Reply to  Muttersprach

🙂 glaub mir. Besser als diese Scheinwelten und dahinter lauter kaputte Mütter die sich selbst vergessen und heimlich am Klo weinen.

Michaela
Michaela
5 Jahre zuvor
Reply to  Muttersprach

Ooooh Danke 🙂 ja wir müssen den Blog mal wieder auf Vordermann bringen. Mit 4 Kindern ist das immer ganz unten Auf der To-Do Liste

Michaela
Michaela
5 Jahre zuvor
Reply to  Muttersprach

Kommentare hab ich natürlich nicht kapiert, dass deaktiviert waren. *loooool* Ich Überbloggerin, ich.

Busymamawio
5 Jahre zuvor

Gerade heute trifft mich dein Beitrag richtig. Denn wie so oft habe ich mich mit meiner Tochter gefetzt und das so richtig. Jetzt ist sie beim Schwimmen mit Opa und ich sitze zuhause und grübel darüber nach, wieso ich mich denn nicht einfach wieder beherrschen konnte. Tja, du sagst es – weil ich auch nur ein Mensch bin. Und ja meine große kitzelt auch immer an dieser Grenze meiner Selbstbeherrschung bis ich sie verliere. Es freut mich zumindest, dass es nicht nur mir so geht. Aber es wirklich so hinnehmen und dazu stehen? Das kann ich irgendwie nicht… Viele Grüße… Weiterlesen »

Marisol
Marisol
5 Jahre zuvor

Danke Danke Danke! Du sprichst mir und vielen anderen Mamas aus der Seele! Bitte mehr davon!
Marisol

Irmi
Irmi
5 Jahre zuvor

Mit kamen beim lesen die Tränen. Deine Worte haben mich sehr berührt.

Herzliche Grüße aus der Schweiz,
Irmgard

Ruth
Ruth
5 Jahre zuvor

In mir schreit es innerlich: „JA!“ bei jedem Satz!! Toll, das du dieses Tabu ansprichst!!

Fühl dich ganz fest gedrückt, Ruth.

NanuNana
NanuNana
5 Jahre zuvor

Amen, Schwester!

Veronika
Veronika
5 Jahre zuvor

Ich hab Pipi in den Augen… ein wahrer und sehr herzlicher Artikel!

error: Content is protected !!
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner