Ich bin eine schreiende Mutter und stehe dazu. Der Beziehung zu meinem Sohn tut das keinen Abbruch – im Gegenteil. Ein Plädoyer für Streitkultur.
Wenn mich mein Sohn tierisch aufregt, werde ich laut. Erst macht sich eine brodelnde Hitze in meiner Bauchgegend breit, dann steigt dieser Wutschwall langsam nach oben. Unvermeidlich wie ein Vulkanausbruch. Dann ist die Wut größer als ich.
Da gibt es keinen Verstand mehr und keinen Raum zum Reflektieren. Ich bin eine schreiende Mutter und stehe dazu. Und wisst ihr was? Das fühlt sich verdammt gut an.
Ganz schön provokant, mögen manche denken. Und obendrein total unpädagogisch.
Ich finde das aber menschlich. Oft sind wir Eltern extrem gefordert und befinden uns an der Belastungsgrenze. Dass einem dabei mal die Sicherungen durchbrennen können, ist doch klar. Und ich meine, wir dürfen das äußern.
Kinder haben ein Recht auf wütende Eltern
Einige halten ihre Gefühle zurück aus Angst, schlechte Eltern zu sein. Doch Kinder merken, wenn wir etwas vor ihnen verstecken. Und sie provozieren teils so lange, bis wir es endlich rauslassen. Das ist befreiend!
Dadurch entsteht unverfälschte Begegnung: authentisch und frei von Beschönigung. Manchmal gibt es eben nichts zu beschönigen. Manchmal ist es halt scheiße. Das will ich ausdrücken. Und zwar laut. Ich zeige mein wahres Gesicht – mein wütendes Gesicht. Der Beziehung zu meinem Kind schadet das nicht. Im Gegenteil. Es bringt uns näher zusammen.
Das funktioniert aber nur, wenn beide Seiten ihre Wut gleichberechtigt ausdrücken dürfen. Soll heißen: Keiner schreit den anderen nieder, sondern ihr schreit euch auf Augenhöhe an. Ohne das Gesagte persönlich zu nehmen, mit Respekt vor dem Selbstausdruck des anderen. Ihr gebt euch damit den Raum, so sein zu dürfen. Eure „hässliche“ Seite zu zeigen. Jeder Beteiligte übernimmt Verantwortung für seine Wut. Das ist gelebte Streitkultur.
Eine schreiende Mutter: Können wir das aushalten?
Wir können und sollten Kinder daran heranführen. Weil Konflikte Teil unsere Lebens sind. Selbst wenn wir sie nach allen Regeln der Kunst vermeiden, tauchen sie immer wieder auf. Wie wollen wir verhandeln, uns behaupten und abgrenzen? Dazu brauchen wir Kontakt zu unserem Ärger – und zu dem anderer Menschen.
Gesunde Streitkultur bedeutet, nicht zu kuschen, sobald jemand laut wird. Sich bei Meinungsverschiedenheiten nicht beleidigt zurückzuziehen und über die ungerechte Welt zu klagen. Gesunde Streitkultur besagt: Ich kann meine und deine Wut aushalten.
Wut ist kraftvoll und lebendig
Dahinter liegt ein Goldtopf. Er ist gefüllt mit den Fähigkeiten, sich zu entschuldigen und wahrhaft zu verzeihen: Ohne dem anderen sein Fehlverhalten ewig nachzutragen – oder gar sich selbst. Der Weg dahin erfordert Mut. Denn er führt mitten durch die Wut hindurch.
Wir dürfen einen neuen Blick auf sie werfen. Sie ist ein missachtetes Gefühl, dem wir einen negativen Stempel aufgedrückt haben. Weil wir uns vor ihrer Kraft fürchten. Wir wollen sie nicht spüren, nicht so sein. Meist haben wir schon in der Kindheit gelernt, diesen Aspekt zu unterdrücken. Das ist die Wurzel von Aggressionsproblemen.
Umarme die Rebellion
Wir haben nie gelernt, mit unserer Wut umzugehen. Da hängt so viel Angst mit dran: Was, wenn mich derjenige nicht mehr mag? Das ist die Angst eines Kindes, das nie erfahren hat, sich mit seiner Wut sicher zu fühlen. Diese Emotion durfte nicht sein. Darum ist sie für viele gleichbedeutend mit Weltuntergang, Verlassenwerden, Sterben.
Aus Angst vor der Wut hören wir nicht, was sie uns sagen will. Dabei steckt in dieser Emotion so viel Kraft und Lebendigkeit. Richtig eingesetzt kann sie unser Kompass sein: Die Wut zeigt deutlich, was unstimmig erscheint und wo unsere Grenzen überschritten werden. Für jede Art von zwischenmenschlicher Beziehung ist das wesentlich.
Ich will, dass mein Sohn mich so erlebt. Er soll wahrnehmen, dass seine Mutter keine ewig säuselnde Ja-Sagerin ist, die alles hinnimmt. Ich bin kein braves Muttchen. Sondern ein leidenschaftlicher Mensch, der seine Gefühle ausdrückt. Wenn es die Umstände erfordern, auch schreiender Weise.
Dem Sohn steht das genauso zu. Wut ist Teil unserer Dialoge. Wir schreien uns an. Fetzen fliegen – Türen knallen. Und dann, wenn der ganze Zorn verraucht ist, sind wir uns näher als zuvor.
Wut heraus zu lassen ist per se nicht falsch. Nur kann es sein, wenn sich der Verdtand ausschaltet und nur die Emotion übernimmt, dass man Dinge sagt und tut, die man später bereut. Und vll auch nicht zurück nehmen kann. Und, man kann sich auch ohne Wutausbrüche durchsetzen. Meine Mutter hatte früher oft Wutausbrüche. Tagelange. Mitten in der Nacht, am Morgen und am Abend. Schon bei Kleinigkeiten explodierte sie. Das war oft die Hölle und führte eher dazu, dass sich die Familie vor ihr zurück zog. Näher gebracht hat es uns nicht. Im Gegenteil. Und heute, wenn Frauen schreien, sorgt… Weiterlesen »
Hi Charlette, ich hatte auch so eine Mutter, wie du sie beschreibst. Sie war unberechenbar und es geschah genauso wie du es beschreibst: die anderen zogen sich von ihr zurück. Meine Mutter war nicht in der Lage, sich selbst zu reflektieren. Auch war sie nicht in der Lage, Verantwortung für ihre Gefühle zu übernehmen. Und das sind die Punkte, die mich von meiner Mutter unterscheiden. Gefühlsausbrüche einer Person, die für ihre Emotionen die Verantwortung trägt, haben eine ganz andere „Qualität“. Für mich ist Zuhause ein geschützter Raum, wo alles da sein darf. Ich werde laut. Mein Sohn wird auch laut… Weiterlesen »
Danke für den ehrlichen Beitrag. 🙂
Gern geschehen.
Ich gebe zu, es hat mich Überwindung gekostet, das so öffentlich zu machen.
Jetzt wissen alle Bescheid über meine „Rabenmutter-Qualitäten“ :-))
🙂 glaub mir. Besser als diese Scheinwelten und dahinter lauter kaputte Mütter die sich selbst vergessen und heimlich am Klo weinen.
Danke 🙂
Ich mag deine unverblümte Schreibweise.
Hab ein bisschen auf deinem Blog gestöbert und bin auf den Artikel über „Das perfekte Insta- und Bloggerleben“ gestoßen.
Das ist so ein klasse Bericht. Der bringt diesen Möchtegern-Perfektionismus perfekt auf den Punkt!
Ich wollte dir einen Kommentar dalassen, aber es gab keine Funktion dafür – also hab ich ne E-Mail geschrieben.
Ooooh Danke 🙂 ja wir müssen den Blog mal wieder auf Vordermann bringen. Mit 4 Kindern ist das immer ganz unten Auf der To-Do Liste
Kommentare hab ich natürlich nicht kapiert, dass deaktiviert waren. *loooool* Ich Überbloggerin, ich.
Achso. Ich dachte erst, du hättest die Kommentare bewusst deaktiviert, um kontroverse Diskussionen zu vermeiden 🙂
Gerade heute trifft mich dein Beitrag richtig. Denn wie so oft habe ich mich mit meiner Tochter gefetzt und das so richtig. Jetzt ist sie beim Schwimmen mit Opa und ich sitze zuhause und grübel darüber nach, wieso ich mich denn nicht einfach wieder beherrschen konnte. Tja, du sagst es – weil ich auch nur ein Mensch bin. Und ja meine große kitzelt auch immer an dieser Grenze meiner Selbstbeherrschung bis ich sie verliere. Es freut mich zumindest, dass es nicht nur mir so geht. Aber es wirklich so hinnehmen und dazu stehen? Das kann ich irgendwie nicht… Viele Grüße… Weiterlesen »
Hallo Wioleta und danke für deine ehrlichen Worte! Ich bin positiv überrascht, wie viele Frauen das genauso kennen. Die Erleichterung ist definitiv auf beiden Seiten 🙂 Solche „extremen“ Situationen sind glaub ich unvermeidbar, wenn man Kinder hat. Als ich noch kinderlos war gab es keine großartigen Konfrontationen in meinem Leben. Ich bin vom Wesen her friedlich. Früher konnte ich Disharmonien schlecht aushalten. Hab starke Gefühle gedeckelt und des Friedens Wilen viel ertragen. Das ging so lange gut, bis mein Sohn auf die Welt kam. Er wurde größer und forderte mich auf eine Weise heraus, die mir bis dahin unbekannt war.… Weiterlesen »
Danke Danke Danke! Du sprichst mir und vielen anderen Mamas aus der Seele! Bitte mehr davon!
Marisol
Hey Marisol 🙂
Ich danke dir für die Rückmeldung.
Schön, dass dir der Text gefällt. Scheint ja doch einen Nerv zu treffen.
.
Es wird auf jeden Fall noch mehr Kontroverses kommen. Ist in Arbeit 😉
Liebe Grüße,
Conni
Mit kamen beim lesen die Tränen. Deine Worte haben mich sehr berührt.
Herzliche Grüße aus der Schweiz,
Irmgard
Ach Irmi,
ich geb dir eine Cyber-Umarmung.
Alles Gute dir.
Conni
In mir schreit es innerlich: „JA!“ bei jedem Satz!! Toll, das du dieses Tabu ansprichst!!
Fühl dich ganz fest gedrückt, Ruth.
Grüß dich Ruth!
Das ist hoffentlich bald kein Tabu mehr.
Dieses überhöhte Mutterideal, das solchen vermeintlich negativen Verhaltensweisen keinen Platz lässt, tut niemandem gut.
Alles Liebe,
Conni
Amen, Schwester!
Ich hab Pipi in den Augen… ein wahrer und sehr herzlicher Artikel!