Die schönsten Erinnerungen an meine Kindheit sind frei von Eltern. Wir Dorfkinder waren zum Großteil uns selbst überlassen, bildeten Banden und lösten Konflikte eigenständig. Die Erwachsenen haben in diesem Kosmos keine bedeutende Rolle gespielt. Heute ist das kaum mehr vorstellbar. Es ist normal, dass Eltern ihrem Nachwuchs die Kindheit klauen.
Meine Kindheit war zu großen Teilen wie ein Pippi-Langstrumpf-Roman: frech, wild und wunderbar. Wir spielten in verlassenen Kriegsbunkern, prügelten uns, sprangen nackt in Moorlöcher und krochen in Dachsbauten.
Niemand konnte uns davon abhalten, weil wir nicht überwacht wurden. Wir durften unsere eigenen Erfahrungen machen. Unsere Grenzen selbst austesten und aus Fehlern lernen. Handys gab es nicht. Wenn die Kirchenglocke läutete, gingen wir nach Hause – und fielen satt von Abenteuern ins Bett.
Kein Tag war wie der andere. Wir waren getrieben von einem unersättlichen Hunger auf das Neue und Unbekannte. Diese fantastische Welt blieb den Erwachsenen verborgen. Sie gehörte nur uns. Unsere Geheimnisse und Verschwörungen blieben unangetastet. Wir hatten weder Vorgaben noch jemanden, der uns bespielte. Langeweile durfte sein – sie wurde nicht wegorganisiert. Das brachte unsere Fantasie zum Blühen: Aus Holz, Stein und Gras errichteten wir königliche Imperien.
Meine Kindheit: wild, frei, geheimnisvoll
Blaue Flecken, Narben und Blut gehörten dazu. Das war kein Drama, da wir uns selbst trösten konnten. Wir führten erbitterte Kämpfe, um unser Lager gegen andere Banden zu verteidigen. Konflikte konnten wir bis auf wenige Ausnahmen eigenständig lösen.
Von dieser intensiven und lehrreichen Zeit zehre ich heute noch. Ich bin so dankbar für all die Erfahrungen meiner Kindheit – denn sie haben mich nachhaltig geprägt. Wir Dorfkinder waren kreativ. Wenn wir vor einem Problem standen, rannten wir nicht verzweifelt zu den Eltern, sondern klärten das selbst. Wir hatten die Freiheit, nach Herzenslust zu scheitern. Da war keiner, der uns vor etwas bewahren wollte – zum Glück!
Wir hatten unsere eigene Welt. Einen Raum, in dem wir uns ungehindert ausleben konnten. Dieser Abstand machte uns selbstbewusst. Er gab uns den Mut, die Theorien der „Großen“ zu hinterfragen.
Kindheit unter dem Röntgenschirm
Das hat sich radikal geändert. Heute haben viele Kinder nichts Eigenes mehr. Weder Privatsphäre noch Geheimnisse oder Probleme. Eltern tracken ihre Standorte, lesen Messenger-Verläufe und lösen Konflikte. Das ist keine Kindheit, sondern ein Leben unter dem Röntgenschirm. Frei von Grenzerfahrungen.
Zugleich kennt das Behüten keine Grenzen mehr: Auch auf emotionaler Ebene räumen die Erwachsenen auf. Sie halten Trauer, Ängste und Frust ihrer Kinder nicht aus. Weil sie sich nicht distanzieren können und extrem mitleiden. Ihre Taktik: Indem sie den Kindern alle Hindernisse aus dem Weg, räumen, vermeiden sie ihren eigenen Schmerz.
Keine Chance, sich zu spüren
Blind vor vermeintlicher Fürsorge klauen Eltern ihren Kindern die Gefühle: Alles Unliebsame wird weggetröstet – schlimmstenfalls mit Süßigkeiten. Das ist gut gemeint und gleichzeitig katastrophal. Weil es auf die nächste Generation übergeht. So werden unter dem Deckmantel der „guten Elternschaft“ lauter Emotions-Vermeider groß.
Wie sollen diese Menschen Frustrationstoleranz entwickeln, wenn man ihnen die Chance nimmt, sich zu spüren? Sie lernen, dass es „gute“ und „schlechte“ Emotionen gibt. Letztere dürfen nicht sein. Also folgen sie dem Vorbild der Eltern: lenken sich ab, verdrängen, betäuben.
Mütter feiern ihre Selbstaufgabe
In meiner Kindheit gab es viel Frust. Wenn unsere Pläne nicht aufgingen oder unsere Kämpfe verloren waren, verspürten wir Hoffnungslosigkeit. Wir hatten dieses ganze Spektrum an Gefühlen. Weinten, brüllten unsere Wut heraus, schlugen mit Stöcken auf den Boden und stampften zornig auf. So haben wir unsere Verzweiflung voll und ganz angenommen. Dadurch konnten wir sie überwinden. Das passierte instinktiv. Weil Kinder kompetenter sind, als wir ihnen zutrauen.
Dieser kindlichen Kompetenz hat der Familientherapeut Jesper Juul sein Lebenswerk gewidmet. Der Grundgedanke war genial. Doch was viele Eltern daraus gemacht haben, ist besorgniserregend: In bedürfnisorientierten Gruppen brüsten sich vor allem Mütter damit, wie wenig Raum sie für sich selbst haben. Je weniger, desto besser die Mutter!
Nur wer sich maximal aufopfert, kommt in den Garten. Also tragen sie ihrem Nachwuchs alles hinterher, stellen seine Bedürfnisse an oberste Stelle. Ihr Mantra: „Ich tue ALLES für mein Kind“. Das klingt vielleicht romantisch. In Wahrheit sind es nur schöne Worte für Selbstaufgabe. Die wird oft mit Liebe verwechselt.
Was lernt das Kind in so einem Umfeld? Dass seine Bezugsperson keine eigenen Bedürfnisse hat. Dass es okay ist, von anderen alles zu verlangen – und alles zu bekommen.
Wollen wir das?