In den sogenannten bedürfnisorientierten Gruppen erziehen Eltern sich gegenseitig zu besseren Menschen. Das geht völlig am Grundgedanke der Bewegung vorbei.
Verurteilungen, Belehrungen, Beschimpfungen: In den bedürfnisorientierten Gruppen ist so ein Umgang an der Tagesordnung. Unter dem Deckmantel der Gewaltfreiheit gehen sich die Mitglieder gegenseitig an die Gurgel.
Für mich ist das schmerzlich mit anzusehen, da ich ein großer Fan des verstorbenen Familientherapeuten Jesper Juul bin. Er hat den Begriff „bedürfnisorientiert“ geprägt. Sein geistiges Erbe wird leider oft falsch ausgelegt.
Bedürfnis-Diskussionen
Dazu genügt ein Blick auf die bedürfnisorientierten Plattformen der sozialen Netzwerke. Dort zerbricht man sich die Köpfe darüber, was Bedürfnisse sind und was nicht. Ein verzweifelter Familienvater offenbart, dass er abends lieber fernsehen würde, anstatt eine mehrstündige Einschlaf-Zeremonie abzuhalten.
Für diese Ehrlichkeit wird er an den virtuellen Pranger gestellt: Neben wütenden und weinenden Emojis hagelt es Belehrungen von oben herab. Ihm wird eingetrichtert, dass seine Bedürfnisse nicht zählen. Daraufhin zieht sich der Mann unter mehrfachen Entschuldigungen zurück. Am Ende erweist sich die Gruppe als gnädig und erteilt dem Sünder Absolution. Er verspricht, sich zu bessern. Dafür bekommt er Hausaufgaben mit auf den Weg.
Verunsicherte Eltern
Was ist nur los mit diesen Juul-Jüngern auf Abwegen? Sie halten dermaßen stur an einer Lehre fest, dass ihre Kompetenz dabei flöten geht. Diese Menschen sind zutiefst verunsichert. Manche fürchten sich so sehr vor möglichen Fehltritten, dass sie lieber passiv sind, anstatt die Konfrontation zu suchen. So treten sie das Lebenswerk des Begründers mit Füßen: Juul bestärkte Eltern darin, selbstbestimmte und authentische Entscheidungen zu treffen. Das war seine Kernbotschaft.
Doch viele Eltern, die sich bedürfnisorientiert auf die Stirn schreiben, ignorieren diese wichtige Message. Sie fühlen sich „den Erziehenden“ überlegen – und haben zugleich keinen Halt in sich. Diese innere Schwäche kaschieren sie durch Gruppenbildung. Dort geht es elitär zu: Ihr (falsch interpretierter) Weg ist der einzig Richtige.
Die Angst, sich wichtig zu nehmen
Am Lautesten sind diejenigen, die offenbar schlechte Kindheitserfahrungen gemacht haben. Ihr oberstes Ziel: die Fehler der Eltern nicht zu wiederholen. Das wäre eine gute Sache, wenn da nicht diese immense Versagensangst dahinter steckte. Bloß nicht laut werden, nicht schimpfen, niemals die Stimme gegen den Nachwuchs erheben. Sonst…ja was eigentlich?
Ich glaube, diese Leute wittern an jeder Ecke ein Trauma. Das wird sich auch nicht ändern, solange sie ihr eigenes Kindheitstrauma nicht verarbeitet haben. Daher würden sie sich und allen anderen einen riesigen Gefallen tun, wenn sie auf sich blicken würden.
Stattdessen richten sie die volle Aufmerksamkeit aufs Kind. Das steht an erster Stelle, auch wenn es schon längst aus dem Tüddel-Alter raus ist. Danach kommt lange nichts. Auch der Partner hat da nicht viel zu melden: Wenn der Viertklässler nicht aus dem Familienbett ausziehen will, dann muss er es auch nicht. Könnte ja ein Verlust-Trauma erleiden.
Und überhaupt: „Sie werden so schnell groß!“ Das ist Totschlag-Argument Nummer eins. So kann man sich das schönreden. Aber eine Wahrheit bleibt – egal, wie sehr ihr sie verbiegen wollt: Bedürfnisorientiert heißt, dass die Bedürfnisse ALLER Familienmitglieder ernst genommen werden.
Bedürfnisorientiert: verkopfte Alltags-Analyse
Liebe Eltern, ihr dürft euch wichtig nehmen. Ohne schlechtes Gewissen. Es ist okay, dass ihr gerade mehr Bock auf Fernsehen habt als auf Einschlafbegleitung. Und es ist auch in Ordnung, in Ruhe essen zu wollen. Das macht niemanden zu schlechten Eltern.
Doch die Juul-Anhänger sehen das anders: Sie zerpflücken eine Mutter, die gerne ihre Mahlzeit einnehmen würde – ohne dass der Nachwuchs auf ihrem Stuhl herumturnt. Das Ergebnis der Analyse: In Ruhe zu essen sei kein Bedürfnis. Die gute Frau solle mal darüber nachdenken, was wirklich hinter dem Konflikt steckt. Mit diesen „Hausaufgaben“ wird sie entlassen – wie zuvor schon der Fernseh-Vater.
Bedürfnisorientierte Gruppen verleihen Alltags-Situationen eine überhöhte Bedeutung. Die Mitglieder nutzen Banalitäten für ihre verkopften Analysen. Alle folgen dem gleichen Pfad – Abweichungen werden nicht akzeptiert.
Da heißt es dann: „Kannst du schon machen, ist dann halt Erziehung“. Das ist Totschlag-Argument Nummer zwei. Der Satz ist wie ein Peitschenhieb. Bei Bedürfnisorientiert kuschen sie vor dem bösen Erziehungs-Wort.
Eltern erziehen einander zu besseren Menschen
In diesen Gruppen geht es streng zu, damit alle auf Linie sind. Die Mitglieder tun Dinge, hinter denen sie gar nicht stehen. Aber wenn die Mehrheit sagt, dass es so läuft, übernehmen sie diese Ansicht. Sie unterwerfen sich dem Übermächtigen. In der Hoffnung, anerkannt zu werden.
Und wisst ihr was? Genau das ist Erziehung! Eltern werden in sogenannten erziehungsfreien Gruppen zu „besseren“ Menschen erzogen. Das ist vollkommen absurd. Und es dient niemandem.
Juuls Botschaft war: Fühlt und lebt eure Kompetenz! Denn Kinder brauchen keine perfekten Eltern, die jeden Schaden abwenden. Sie brauchen authentische Bezugspersonen, die sich für ihre Fehler nicht verurteilen. Die eigenständig denken, ihrer Intuition vertrauen und Dinge tun, weil es sich stimmig anfühlt. Unabhängig davon, ob das mit irgendwelchen Lehren konform geht!
Könnt ihr das zulassen und aushalten?
Ich wünsche mir, dass ihr Eltern euch mehr zutraut. Dieser Weg ist nicht immer einfach. Dazu müsst ihr zulassen und aushalten können, dass es mal kracht und unfair zugeht. Das sind die Facetten des Lebens – davor müsst ihr euren Nachwuchs nicht bewahren.
Gut gemeint ist nicht immer gut. Übermäßiges Beschützen kann Schaden anrichten: Ihr klaut euren Kindern die Gefühle. Nur, weil ihr diesen Schmerz nicht aushalten könnt. Darum ist es besonders wichtig, dass ihr auf eure eigenen Wunden schaut. Und sie heilt.
Ohne klare Grenzen geht das nicht. Ein Nein zum Kind ist ein Ja zu euch. Kommunikation ist vielfältig und kein Dauergesäusel. Reflektion und Diskussion sind wichtig. Aber es sollte auch Dinge geben, die nicht verhandelbar sind (Juul nannte das „Leitwolf-Entscheidungen“).
Ich schreibe diesen Text für die Mutter, die in Ruhe essen will und nun verunsichert ist, ob sie sich das zugestehen darf. Für den Vater, der seinen Fernsehabend sausen lässt, weil eine Gruppe sagte, dass dies kein ernstzunehmendes Bedürfnis sei.
Du sprichst mir aus der Seele…Und wenn man es wagt sich darüber zu beschweren, dass man die Xte Nacht in Folge nicht schlafen konnte, wein der Zwerg Zähne bekommt oder so, heißt es gleich man hätte bei der Einstellung gar keine Kinder bekommen sollen….
Hallo Swetlana,
leider sind diese Plattformen oft wenig hilfreich und tragen eher noch zur Verunsicherung bei. Darum empfiehlt sich ein digitaler Detox insbesondere für Mamagruppen 😉
Alles Liebe und lass´ dir nix von den Übermuttis erzählen,
Conni
danke danke danke für deine Texte! Balsam, immer wieder!
Danke für dein positives Feedback, das motiviert mich total 🙂