Bedürfnisorientiert? Ohne mich!

bedürfnisorientiert

Erstellt am 04/04/2022

In den sogenannten bedürfnisorientierten Gruppen erziehen Eltern sich gegenseitig zu besseren Menschen. Dabei wird der Grundgedanke von „bedürfnisorientiert“ ad absurdum geführt.

Verurteilungen, Belehrungen, Beschimpfungen: In den bedürfnisorientierten Gruppen ist so ein Umgang an der Tagesordnung. Unter dem Deckmantel der Gewaltfreiheit gehen sich die Mitglieder gegenseitig an die Gurgel.

Für mich ist das schmerzlich mit anzusehen, da ich ein großer Fan des verstorbenen Familientherapeuten Jesper Juul bin. Er hat den Begriff „bedürfnisorientiert“ maßgeblich geprägt und ich habe den Eindruck, dass sein geistiges Erbe allzu oft fehlinterpretiert wird.

Bedürfnisorientiert auf Social Media: Vater am virtuellen Pranger


Dazu genügt ein Blick auf die entsprechenden Plattformen der sozialen Netzwerke. Dort zerbricht man sich die Köpfe darüber, was denn nun Bedürfnisse sind und was nicht. Ein verzweifelter Familienvater offenbart, dass er abends lieber fernsehen würde, anstatt eine mehrstündige Einschlafzeremonie abzuhalten.

Für diese Ehrlichkeit wird er an den virtuellen Pranger gestellt. Neben wütenden und weinenden Emojis hagelt es Belehrungen von oben herab. Ihm wird eingetrichtert, dass seine Bedürfnisse nicht zählen. Daraufhin zieht sich der Mann unter mehrfachen Entschuldigungen zurück.

Eltern sprechen sich ihre Kompetenz ab

Die Gruppe erweist sich als gnädig und erteilt dem Sünder Absolution. Das erinnert schmerzlich an eine Sekte. Mir kommt der Spruch: „WWJD – What would Jesus do?“ in den Sinn. Diesen Satz könnte man auf die bedürfnisorientierten Jünger übertragen. Sie fragen sich: „What would Juul do?“

Was ich daran schlimm finde: Wer sich die Lehre eines anderen derart zu eigen macht, spricht sich selbst jegliche Kompetenz ab. Eine Fähigkeit, der Juul sein Lebenswerk widmete. Ironischer geht es kaum.

Ein Großteil der Eltern, der sich bedürfnisorientiert auf die Stirn schreibt, scheint alleine nicht fähig, Entscheidungen zu treffen. Diese Menschen wirken zutiefst verunsichert und haben so große Angst vor möglichen Fehltritten, dass sie passiv werden. Geschürt wird der fehlende Glaube an sich selbst durch Plattformen, wo den Eltern abgesprochen wird, die eigenen Bedürfnisse zu definieren.

Versagensangst und schlechtes Gewissen

Diese Gruppen haben in meinen Augen etwas Elitäres, sie fühlen sich stark und überlegen. Ihr Weg ist der einzig Richtige. Wer am lautesten schreit sind diejenigen, die offenbar schlechte Kindheitserfahrungen gemacht haben. Ihr oberstes Ziel ist es,  die Fehler der Eltern nicht zu wiederholen.

Das ist im Grunde eine gute Sache, wenn da nicht diese immense Versagensangst wäre. Bloß nicht laut werden, nicht schimpfen, niemals die Stimme gegen den Nachwuchs erheben.

Davon sind die Eltern derart getrieben, dass sie ihr Kind an erste Stelle setzen, und zwar immer. Danach kommt lange nichts. Das führt am Kern der bedürfnisorientierten Grundsätze vorbei. Dabei werden nämlich die Bedürfnisse ALLER Familienmitglieder ernst genommen. Man darf sich selbst also durchaus wichtig nehmen – ohne schlechtes Gewissen!

Juul-Anhänger definieren fremde Bedürfnisse

Vor dem Hintergrund ist es völlig legitim, dass man gerade mehr Bock auf Fernsehen hat als auf Einschlafbegleitung. Und es ist auch in Ordnung, in Ruhe essen zu wollen. Doch die Juul-Anhänger sehen das anders.

Sie zerpflücken das Szenario einer Mutter, die gerne ihre Mahlzeit einnehmen würde, ohne dass der Nachwuchs auf ihrem Stuhl herumturnt. Das Ergebnis der Analyse:  In Ruhe zu essen sei kein Bedürfnis. Die gute Frau solle mal darüber nachdenken, was wirklich hinter dem Konflikt steckt. Mit diesen „Hausaufgaben“ wird sie entlassen – wie zuvor schon der Fernseh-Vater.

Bedürfnisorientiert: Erziehung ist verpönt

In den bedürfnisorientierten Gruppen wird alltäglichen Gegebenheiten eine völlig unverhältnismäßige Bedeutung beigemessen. Banalitäten werden zum Objekt verkopfter Analysen. Alle folgen dem gleichen Pfad – Abweichungen werden nicht akzeptiert.

Da heißt es dann: „Kannst du schon machen, ist dann halt Erziehung“. Dieser Satz ist das Totschlag-Argument schlechthin. Denn niemand will hier in die Erziehungs-Schiene gesteckt werden.

Dafür tun die Mitglieder alles. Auch Dinge, hinter denen sie gar nicht stehen. Aber weil die Mehrheit sagt, dass es so läuft, übernimmt man diese Ansicht.

Man fügt sich dem Übermächtigen und unterwirft sich. In der Hoffnung, anerkannt zu werden. Und wisst ihr was? Genau das ist Erziehung! Eltern werden in sogenannten erziehungsfreien Gruppen zu „besseren“ Menschen erzogen. Das ist vollkommen absurd. Mit dem Ursprungsgedanken von bedürfnisorientiert hat das nichts zu tun.

Fühlt und lebt eure Kompetenz!

Denn Kinder brauchen keine perfekten Eltern, die jeden Schaden abzuwenden versuchen. Sie brauchen authentische Bezugspersonen, die sich für ihre Fehler nicht verurteilen. Die eigenständig denken, anstatt sich von anderen sagen zu lassen, was richtig ist.

Die ihrer Intuition vertrauen und Dinge tun, weil es sich stimmig anfühlt – unabhängig davon, ob das mit irgendwelchen Lehren konform geht. Eure Kinder sehnen sich danach, dass ihr eure Kompetenz nicht nur fühlt, sondern auch lebt!

Ihr müsst eure Kinder nicht vor der Welt bewahren

Ich wünsche mir, dass sich die Eltern mehr zutrauen. Und ich weiß, dass dieser Weg nicht einfach ist. Denn es bedeutet, dass auch auch mal kracht und unfair zugeht. Das sind die Facetten des Lebens – davor müssen eure Kinder nicht bewahrt werden. Kommunikation ist vielfältig und kein Dauergesäusel. Reflektion und Diskussion sind wichtig, aber es sollte auch Dinge geben, die nicht verhandelbar sind.

Ich schreibe diesen Text für die Mutter, die in Ruhe essen will und nun verunsichert ist, ob sie sich das zugestehen darf. Für den Vater, der seinen Fernsehabend sausen lässt, weil eine Gruppe sagte, dass dies kein ernstzunehmendes Bedürfnis wäre.

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Kuchen backe ich mit Wut statt Liebe, Bügeln halte ich für einen Mythos und ohne meinen Kuschelhund kann ich nicht einschlafen.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

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Swetlana
2 Jahre zuvor

Du sprichst mir aus der Seele…Und wenn man es wagt sich darüber zu beschweren, dass man die Xte Nacht in Folge nicht schlafen konnte, wein der Zwerg Zähne bekommt oder so, heißt es gleich man hätte bei der Einstellung gar keine Kinder bekommen sollen….

Stephanie
Stephanie
2 Jahre zuvor

danke danke danke für deine Texte! Balsam, immer wieder!

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