Verhöhnt, beschimpft, bedroht

Vorwürfe Lindemann

Erstellt am 07/06/2023

Die Vorwürfe gegen Till Lindemann zeigen, dass Opfer von sexueller Gewalt kaum Rückhalt haben. Ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt, im Netz werden sie verhöhnt und als famegeil abgestempelt. Gleichzeitig wird der mutmaßliche Täter, der Gedichte über Vergewaltigungsfantasien schreibt und frauenverachtende Sexvideos produziert, in Schutz genommen.

Bewusstlose Frauen werden auf einem Koffer-Transportwagen durch die Gegend geschoben, übereinandergestapelt wie Menschenmaterial. Dazu singt Till Lindemann: „Alle Frauen, alles meins. Alles dreht sich nur um mich.“

Die Sequenz stammt aus dem Video „Platz eins“, das unzensiert nur auf Porno-Plattformen zu finden. Es setzt sich explizit mit Fangirls auseinander und zeigt junge Frauen, die ihr Idol hoch oben auf der Bühne anhimmeln und wie wild gewordene Tiere an der Absperrung rütteln.

Anschließend zerrt der Sänger eine nackte Frau über den Fußboden. Man sieht ihn mit Groupies, die ihm im Hotelzimmer einen blasen. Es kommt auch zum Sex. Dabei inszeniert sich der Musiker als jemand, der Frauen auf brutale Weise dominiert.

Vorwürfe gegen Lindemann: Sexuelle Übergriffe, Drogenkonsum, Machtmissbrauch

Im Anbetracht der aktuellen Vorwürfe gegen Lindemann erscheinen solche Szenen nun in einem anderen Licht. Es stellt sich die Frage, ob das noch Kunst ist oder die bittere Wahrheit über ein perfides Gefüge, in dem weibliche Fans systematisch ausgenutzt werden.

Lindemann wird von mehreren Frauen bezichtigt, sexuell übergriffig gewesen zu sein. Ein Recherchekollektiv hat die Aussagen von mehr als zwölf Frauen geprüft, die eidesstattlich und teils anonym ausgesagt haben.

Es geht in ihren Schilderungen um sexuellen Missbrauch, Drogenkonsum, Machtmissbrauch. Beschrieben wird ein System, in dem Frauen gezielt rekrutiert und teils unwissentlich unter Drogen gesetzt werden, um die sexuellen Bedürfnisse des Musikers zu befriedigen.

Die Zahl der Betroffenen steigt

Um vorab eines klarzustellen: Der Skandal ist nicht, dass Groupies mit einem Musiker intim werden. Er besteht darin, dass laut den Aussagen ganz bewusst ein Umfeld geschaffen wurde, in dem die Frauen unter Zugzwang standen und nicht frei entscheiden konnten.

Mittlerweile melden sich immer mehr Betroffene zu Wort. Darunter die deutsche Youtuberin Kayla Shyx, die in diesem Video ihre Erfahrung bei der Aftershow-Party schildert und auch Nachrichtenverläufe von weiteren Frauen veröffentlicht, die übergriffiges Verhalten hinter der Bühne beschreiben.

Den Stein ins Rollen brachte Shelby Lynn. Sie war eigener Aussage nach auf einer solchen Party in Vilnius, wo sie Sex mit Lindemann verweigert haben soll. Auf Social Media zeigte die Irin heftige körperliche Blessuren und schreibt, dass sie nicht weiß, wie diese entstanden sind. Obschon sie bei der Feier nicht viel getrunken haben will, hatte sie am nächsten Tag Erinnerungslücken und vermutet, dass ihr K.O.-Tropfen verabreicht wurden.

Lindemanns Fanbase verteidigt potenzielle Übergriffe

Was sagt die Band? Dass sie mit all dem nichts zu tun hat.
Was sagen die Fans? Sie beleidigen, drohen, diffamieren und betreiben Victim Blaming vom Feinsten. Sprechen von medialer Hetze und machen sich über Lynns äußere Erscheinung lustig. Verteidigen potenzielle Übergriffe mit dem „Rock´n´Roll-Lifestyle“ und degradieren die Betroffenen als naive Dummchen, die es nicht besser verdient hätten.

Damit sind wir bei einer Debatte angekommen, die weit über die aktuellen Vorwürfe gegen Lindemann hinausgeht: Frauen sind nicht sicher. Sie werden nicht ernst genommen und als Opfer von sexueller Gewalt verlacht. Sie müssen laut anschreien gegen das ewige: „Aber hat sie es nicht so gewollt? Das hätte sie sich doch denken können…“

Nein heißt Nein

Nein, einfach Nein! Jede Frau, die sexuelle Gewalt erlebt hat, weiß, wie erschütternd das ist. Je größer das Machtgefälle, desto schlimmer. Es geht darum zu realisieren, was einem widerfahren ist. Sich einzugestehen und zu verarbeiten, dass man Opfer ist, Das ist ein Prozess. Der geht einher mit Schuldgefühlen, Angst, Zweifeln an sich und der eigenen Wahrnehmung.

Kayla schildert das. Ihr damaliges Management riet ihr sogar ab, ihre Erfahrung öffentlich zu machen. Mit der „Begründung“, dass das alles normal sei im Musikbusiness.

Darum fand sie erst ein Jahr später – und inspiriert durch Shelby – den Mut, sich zu äußern. Das ist ein Grundproblem: Oft vergeht zwischen Vorfall und Anklage viel Zeit. Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer ist es, das Geschehen nachzuweisen.

Ist Musikgeschmack wichtiger als Moral?

Zweifler nutzen das, um die Glaubwürdigkeit der Frauen infrage zu stellen. Das sieht man am Beispiel Rammstein sehr deutlich. Der unverhohlene Hass der Fans zeigt auf, warum viele Opfer lieber still sind, als laut zu werden.

Im Zuge der Vorwürfe gegen Lindemann wird klar: Dieser Mann, der durch seine weltweite Bekanntheit eine unbestreitbare Machtposition besitzt und von Fans idealisiert wird, hat eine fanatische Front hinter sich.

Eine, der Musikgeschmack offenbar wichtiger ist als Moral. Das sind Menschen, die in Kommentaren beteuern, dass sie hinter der Band stehen, egal was kommt. Heißt das, du kannst dir alles erlauben, wenn du nur berühmt genug bist?

Tabubrüche und Legalitätsgrenze

Es wirkt, als wäre die Angst, ein Idol zu verlieren, zu groß, um der möglicherweise unbequemen Wahrheit Platz zu machen.

Und das sage ich als ehemaliger Rammstein-Fan. Ich besitze alle CD´s, war Konzertbesucherin, wälzte mich durch Tills Gedichtbände und mochte auch sein Nebenprojekt Lindemann.

Ich verfolgte, wie er ein Tabu nach dem anderen brach. So lange, bis es gefühlt keine legale Grenze mehr gab, die er überschreiten konnte. Mein Eindruck ist, dass er sich in seinem eigens erzeugten Skandal-Gewässer viel zu lange viel zu wohl gefühlt hat.

Gewalt gegen Frauen unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit

Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit macht der Sänger keinen Hehl aus seinen Neigungen. Seit Jahren gibt er sich offen sexistisch, frauenfeindlich und gewaltverherrlichend. Das ist also nichts Neues. Doch sollte man das jetzt, wo schwere Vorwürfe gegen Lindemann im Raum stehen, anders betrachten.

Im Musikvideo „Knebel“ schleift er eine nackte Frau in Ketten hinter sich her. Er hat vor drei Jahren einen Hardcore-Porno mit dem Titel „Till the end“ produziert, wo er Frauen mit dem Kopf gegen die Wand knallt, ihnen sein Ding bis zum Anschlag reinrammt, sie würgt und als Schlampe betitelt.

Es gibt Aufnahmen von einem Lindemann-Konzert, wo Till beim Sex hinter der Bühne mit Frauen im sogenannten „Suck Room“ zu sehen ist. Das Ganze wird für das Publikum auf Leinwand projiziert.

Till ist ein Mann, der seine Vergewaltigungsfantasien poetisch auslebt. Der darüber schreibt, Frauen mit Rohhypnol zu betäuben, um sich an ihren leblos wirkenden Körpern zu vergehen.

Lindemann-Vorwürfe: Versuche, die Anschuldigungen zu relativieren

Was, wenn Kunstfigur und reale Person nie getrennt waren?
Das ist eine Frage, die wir uns stellen sollten – Unschuldsvermutung hin oder her. Es sind zu viele Frauen und zu viele Parallelen in deren Aussagen, um sich hier neutral zu geben.

Und jetzt kommt mir nicht mit Sophia Thomalla und anderen Frauen, die lautstark betonen, dass sie immer nett von Lindemann behandelt wurden. Das eine Erleben schließt das andere nicht aus!

Rückhalt bekommt der Rammstein-Frontmann auch von Musikproduzent Thomas Stein. Er verteidigt Lindemann in der Sendung „hart aber fair“, die nachträglich aus der Mediathek gelöscht wurde. Sein „Argument“: Die meisten Konzertbesucher hatten Spaß, das müsse man in Relation setzen zu den wenigen Opfern. Diese Haltung zeigt, dass Stein Teil des Problems ist. Er spiegelt eine Denkweise wider, die in vielen Köpfen verankert ist.

Keine Bühne für potenzielle Täter

Wie geht der Beschuldigte damit um? Schweigen und Aussitzen. Lindemann ist von der Insta-Bildoberfläche verschwunden und verschanzt sich nach wie vor hinter dem nichtssagenden Statement der Band, anstatt selbst zu sprechen.

Eine Berliner Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Lindemann aufgenommen. Darüber berichtet unter anderem Anwalt Solmecke, der auch weitere Details zur rechtlichen Sachlage nennt .

Trotz der Vorwürfe, die gegen Lindemann im Raum stehen, fand der Tournee-Auftakt in München statt. Es soll keine Fangirl-Reihe Null und auch keine Aftershow-Party gegeben haben. Stattdessen verstärkten Polizeischutz und „Awareness-Teams“, die bei Vorfällen als Ansprechpartner dienen. Es wäre ein weitaus größeres Statement gewesen, wenn man potenziellen Tätern wie diesem keine Bühne bietet.

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Kuchen backe ich mit Wut statt Liebe, Bügeln halte ich für einen Mythos und ohne meinen Kuschelhund kann ich nicht einschlafen.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

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Conni
Conni
3 Monate zuvor

Update: Viele behaupten, Lindemann sei freigesprochen. Das ist er nicht.
Die Ermittlungen wurden fallen gelassen aus Mangel an Beweisen – das ist kein Freispruch von Schuld.
Leider passiert das of bei Vergewaltigung und/oder dem Einsatz vom K.O.Tropfen, weil beides nur in einem gewissen Zeitfenster (und wenn das Opfer die Beweise sichern lässt) nachweisbar ist.

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