Hört auf, eurem Nachwuchs die Kindheit zu klauen!

Kind, Kindheit

Erstellt am 11/07/2022

Die schönsten Erinnerungen an meine Kindheit sind frei von Eltern. Wir waren zum Großteil uns selbst überlassen, bildeten Banden und lösten Konflikte eigenständig. Die Erwachsenen haben in diesem Kosmos keine bedeutende Rolle gespielt. Heute ist das kaum vorstellbar. Es ist normal, dass Eltern ihrem Nachwuchs die Kindheit klauen.

Meine Kindheit war wie ein Pippi-Langstrumpf-Roman: frech, wild und wunderbar. Wir spielten in verlassenen Kriegsbunkern, trugen Bandenkämpfe aus, sprangen nackt in Moorlöcher und verkrochen uns in Dachsbauten. Es gab niemanden, der auf uns aufpasste oder Warnungen aussprach. Wir durften unsere eigenen Erfahrungen machen, unsere Grenzen selbst austesten und aus Fehlern lernen.

Überwachung in Form von Handys gab es nicht. Wenn die Kirchenglocke läutete, gingen wir nach Hause. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals ins Bett gefallen bin: satt von Abenteuern und Eindrücken. Kein Tag war wie der andere – wir waren getrieben von einem unersättlichen Hunger auf das Neue, Unbekannte.

Diese fantastische Welt blieb den Erwachsenen verborgen, sie gehörte nur uns. Unsere Geheimnisse und Verschwörungen blieben unangetastet. Langeweile gab es nicht. Wir hatten weder Vorgaben noch jemanden, der uns bespielte. Das brachte unsere Fantasie zum Blühen. Aus Holz, Stein und Gras errichteten wir königliche Imperien.

Meine Kindheit: wild, frei, geheimnisvoll

Dabei kam es mitunter zu erbitterten Kämpfen. Wir prügelten uns, weil wir unser Lager gegen feindliche Angriffe verteidigten. Blaue Flecken, Narben und Blut gehörten dazu. Doch das war kein Drama, da wir uns selbst trösten konnten. Auch Konflikte lösten wir bis auf wenige Ausnahmen eigenständig. Von dieser intensiven und lehrreichen Zeit zehre ich heute noch. Ich bin so dankbar für all die Erfahrungen meiner Kindheit, denn sie haben mich nachhaltig geprägt.

Wir Dorfkinder waren kreativ. Wenn wir vor einem Problem standen, rannten wir nicht verzweifelt zu den Eltern, sondern klärten das selbst. Fehlschläge nahmen wir in Kauf – auch wenn wir tausendmal auf die Schnauze fielen. Da war keiner, der uns vor etwas bewahren wollte.

Auf diese Weise konnten wir unsere Selbstwirksamkeit erfahren. Unser innerer Antrieb war unaufhaltsam. Wir waren selbstbewusst und hatten den Mut, die Theorien der „Großen“ zu hinterfragen. Unsere innere Vielfalt konnte ungehindert nach außen fließen, weil wir nicht manipuliert wurden. Daraus erwuchs eine ungeheure Stärke.

Kindheit unter dem Röntgenschirm

Diese Kompetenzen erwirbt man nicht durch Eltern oder Pädagogen – den Keim dafür trägt jeder in sich. Doch zum Gedeihen und Erblühen braucht es Platz! Übermäßige Kontrolle erstickt die gesunde Entwicklung unserer Kinder.

Sie haben ja mittlerweile nichts Eigenes mehr. Keine Privatsphäre, keine Geheimnisse. Standorte werden getrackt, Whatsapp-Verläufe gelesen. Das ist keine Kindheit, sondern ein Leben unter dem Röntgenschirm.

Grenzerfahrungen werden unterbunden, sogar auf dem Spielplatz müssen manche Kinder einen Fahrradhelm tragen. Der Schulweg wird von der Helikopter-Fraktion ebenfalls in Beschlag genommen. Fällt ein Tropfen Regen und weht dazu noch ein Lüftchen, blockiert die Elterntaxi-Kolonne mit laufendem Motor die Feuerwehr-Ausfahrt. Hauptsache, der Nachwuchs kommt heil nach Hause.

Keine Chance, sich zu spüren

Habt ihr euch schon mal gefragt, ob ihr euren Kindern damit etwas nehmt? Der Wind auf der Haut, Regen im Gesicht, ein kleiner Tornado aus Laubblättern? In meiner Kindheit liefen wir ausgelassen durch den Herbststurm, wälzten uns in Blätterhaufen, kamen triefend nass zuhause an. Und es war schön. Es war lebendig. Ich bin so glücklich, dass mir niemand diese Erfahrungen „ersparen“ wollte.

Das Behüten kennt keine Grenzen mehr. Auch auf emotionaler Ebene räumen die Erwachsenen auf. Sie halten die Trauer, die Ängste und den Frust ihrer Kinder nicht aus. Weil sie sich nicht distanzieren können und extrem mitleiden, räumen sie alle Hindernisse aus dem Weg.

Das ist gut gemeint und trotzdem katastrophal. Unter dem Deckmantel der „guten Elternschaft“ klaut man seinem Nachwuchs die Gefühle. Alles Unliebsame wird knallhart weggetröstet. Wie sollen diese jungen Menschen jemals Frustrationstoleranz entwickeln, wenn man ihnen die Chance nimmt, sich zu spüren?

Frust bringt persönliches Wachstum

Meine Kindheit war voller Frust. Der war teils so groß, dass wir geweint haben. Wenn unsere Pläne nicht aufgingen oder unsere Kämpfe verloren haben, verspürten wir Hoffnungslosigkeit.

Wir hatten dieses ganze Spektrum an Gefühlen. Brüllten unsere Wut heraus, schlugen mit Stöcken um uns und stampften zornig auf. Unsere Verzweiflung haben wir überwunden – uns zwar ohne Hilfe! Weil wir das konnten. Weil Kinder kompetenter sind, als wir ihnen zutrauen.

Zu den wunderbarsten Erinnerungen meiner Kindheit zählt eine dreiwöchige Freizeit in Norwegen. Mit 12 Jahren durften wir alleine mit dem Kanu auf den See paddeln, Inseln erkundet, wilde Blaubeeren ernten und Holz hacken. Wir befanden uns mitten in der Wildnis. Keiner hat unsere Kompetenzen hinterfragt.

Wir sind nicht die besten Freunde unserer Kinder

Dieser kindlichen Kompetenz hat der Familientherapeut Jesper Juul  sein Lebenswerk gewidmet. Mit dem Ergebnis, dass eine „bedürfnisorientierte“ Bewegung ihrem Nachwuchs den Arsch hinterher trägt.

Die größte Angst der Juul-Jünger scheinen negative Emotionen ihrer Kinder zu sein. Die gilt es zu vermeiden – und zu diesem Zweck stellt man die Bedürfnisse des Kindes an die erste Stelle.

In den entsprechenden Gruppen brüsten sich die Eltern damit, dass sogar Schulkinder noch Teil des Familienbetts sind. Sexleben und Partnerzeit – wer braucht das schon. „Unser Leben für das Kind“ lautet die Devise. Das sind dann oft diejenigen, die stolz verkünden, die besten Freunde ihrer Kinder zu sein. „Mein Kind erzählt mir ALLES“, sagen sie. Es ist zum Weinen.

Moderne Kindheit ist ein Feldzug der Fürsorge

Das ist ein Feldzug der Liebe und Fürsorge. Alles wird gnadenlos vereinnahmt, besprochen und analysiert. Mir fehlt an dieser Stelle das Vertrauen. Ich muss nicht immer wissen, wo mein Sohn ist, weil ich ihm vertraue.

Ich akzeptiere, dass er mir nicht alles erzählen will, dass er Geheimnisse hat. Das ist so wichtig! Auch mir fällt das nicht immer leicht – doch dann erinnere ich mich an meine Kindheit zurück und komme zu dem Entschluss, dass ich ihm diese Erfahrungen nicht nehmen will.

Kinder brauchen das Gefühl, dass ihnen die Eltern etwas zutrauen. Wenn das nicht gegeben ist, kann sich auch kein Selbstvertrauen entwickeln. Wie willst du dich selbst ausprobieren, bei diesen ganzen „Pass auf!“-Rufen? Und wenn der Nachwuchs die Warnung ignoriert, heißt es: „Hab ich dir doch gleich gesagt!“ Damit wird jeder Ansatz, es selbst zu versuchen, im Keim erstickt.

Überbehütet und passiv

Und da wundern wir uns über die antriebslose Jugend. Woher soll denn die Energie kommen, wenn man immer nur von außen manipuliert wird? Noch nicht mal am Kindergeburtstag dürfen die Kinder frei spielen, weil alles genauestens orchestriert ist. Die Eltern denken sich ein Programm aus und am Schluss gehen alle nach Hause mit einem „Goodie-Tütchen“ voller Plastik-Spielzeug, dass nach einem Tag langweilig geworden ist.

Diese umfassende Einwirkung durch die Eltern hat Konsequenzen. Viele Kinder haben nie gelernt, Krisen eigenständig zu meistern. Da ist es kein Wunder, dass Depressionen und andere psychische Krankheiten unter Kindern und Jugendlichen seit Corona massiv zugenommen haben.

Einige sind regelrecht gefangen in ihrer Passivität. Ihnen fehlt die Erfahrung, Probleme zu überwinden und selbst nach Lösungen zu suchen. Das hat mir unter anderem eine Lehrerin bestätigt, die mit ihren Schülern Waldtage veranstaltet. Sie berichtet, dass die Kinder teils hilflos vor einem umgefallenen Baum stehen. Sie kennen keine Hindernisse, weil sie überbehütet sind. Und das ist fatal!

Schluss mit dem Missionierungs-Kurs

Die moderne Kindheit wird überschattet von Eltern, die ihrem Nachwuchs die Welt erklären wollen. Sie sind fest davon überzeugt, alles besser zu wissen. Mit dieser Mission belehren sie ihre Kinder in Grund und Boden. Sie stülpen ihnen ihre eigenen Ansichten und Ängste über.

Eine häufige Ausrede für das Kontrollieren ist die Angst vor sogenannten „Verrückten“, die nur darauf warten, Kinder zu verschleppen. Die lauern angeblich an jeder Ecke, weil sich „die Zeiten“ geändert hätten. (Wer sich die Kriminalstatistik anschaut, wird eines Besseren belehrt. Daraus geht hervor, dass die Kriminalitätsrate seit Jahren rückläufig ist. Somit sind diese Ängste unbegründet).

Übrigens kenne ich diese Angst aus meiner Kindheit. Meine Mutter hat genau solche Entführungs-Szenarien an die Wand gemalt. Mir war das schlichtweg egal. Ich hatte den Mut zu widersprechen und habe ihre Ängste nicht als meine angenommen!

Wehrt euch gegen die Ängste eurer Eltern

Das ist eine Sache, die ich am liebsten jedem einzelnen Kind auf diesem Planeten mitgeben würde: Hört nicht auf eure Eltern, sondern auf eure innere Stimme. Übernehmt nicht die Sorgen eurer Eltern – ein reifer Mensch behält so etwas für sich und kann sich selbst damit auseinandersetzen. Eure Aufgabe ist das nicht.

Bewahrt euch die kindliche Neugier, die Lust aufs Abenteuer, die Fantasie.
Und dann habe ich keinen Zweifel daran, dass ihr euren Platz findet werdet in dieser Welt.  Die Hilfe von Erwachsenen braucht ihr dazu nicht. Es reicht die Erkenntnis, dass alles bereits in euch ist.

 

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Kuchen backe ich mit Wut statt Liebe, Bügeln halte ich für einen Mythos und ohne meinen Kuschelhund kann ich nicht einschlafen.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

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