Der Sohn und die Esel-Taktik

Esel liegt auf Boden Beitrag Mutter Sohn Mamablog

Aktualisiert am: 03/11/2024

Der Sohn ist ultra-defensiv. Und erfolgreich. Ich wende seine Taktik bei einem Schaffner an, indem ich einen spontanen Exorzismus durchführe. Dabei komme ich mit der dunklen Seite der Macht in Berührung.

Trotz Schuleintritt und den damit einhergehenden Hänseleien ist der Sohn erstaunlich unbedarft. Wenn ich ihn nach Unterrichtsschluss abhole und jemand im Vorbeigehen „Blödmann!“ oder Ähnliches ruft, zeigt das selbstbewusstes Kind keinerlei Reaktion.

Offenbar fehlt dem Sohn jegliches Verständnis dafür, dass ihn jemand nicht mögen könnte. In seiner Vorstellung existiert diese Option nicht. Eine Geisteshaltung, die ich heimlich bewundere. Davon würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden.

Also tue ich es ihm nach und ignorierte die bösen Worte ebenfalls. Bald darauf verlieren die Quälgeister das Interesse an der Schikane. Macht ja auch keinen Spaß, wenn der Betreffende sich nicht einmal Mühe gibt, ärgerlich auszusehen.

Der Sohn punktet mit stoischer Gelassenheit

Fasziniert beobachte ich das Ganze. Und stelle fest, dass der Sohn über die stoische Gelassenheit eines Esels verfügt. Dagegen anzukämpfen ist hoffnungslos – weil der Sohn eben nicht kämpft. Es ist Krieg und er geht nicht hin. Bei diesen Aussichten tun mir die Rowdies Leid.

Doch eines Tages wagen sie einen neuen Anlauf. Ein rotwangiger Bengel mit ebenso rotem Schopf mustert abfällig den Tretroller des Sohnes und quiekt: „Mit sowas fahren nur bescheuerte Babys!“

Einen kurzen Augenblick hoffe ich, das Kind würde seine professionelle Fassung verlieren und Kontra geben. Fehlanzeige. Seine Miene hellt sich auf: „Du bist zu meinem Geburtstag eingeladen“, teilt es seinem verdatterten Gegenüber mit. Dann schwingt es sich elegant auf den Roller und fährt mir entgegen.

Ein Grundschul-Rowdy in der Sinnkrise

Mit offenem Mund starrt der Rotschopf dem Sohn hinterher, der mich bereits mit Plänen für seine anstehende Geburtstagsfeier bombardiert. Ich werfe dem Rüpel einen mitfühlenden Blick zu. Er wirkt völlig verloren und seine Augen sind leer. Es scheint, als durchlaufe er seine allererste Sinnkrise.

Auf dem Heimweg überlege ich, was gerade geschehen ist. Der Sohn verfügt über ultra-defensive Fähigkeiten. Und geht damit auch noch erfolgreich durchs Leben. Das, was gewaltfreie Kommunikatoren jahrelang einstudieren, hat dieses Kind ganz nebenbei verinnerlicht. Ich beschließe, diese bemerkenswerte Technik in meinen Alltag zu integrieren.

Auge in Auge mit dem Fahrkarten-Grinch

Die Gelegenheit bietet sich schneller als erwartet. Ich habe kinderfrei, sitze im Zug Richtung München und blicke einem Abend mit Freunden entgegen. Lässig ziehe ich mein Ticket aus der Tasche. Der Schaffner starrt unnötig lange darauf. Zwischen seinen borstigen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte: „Diese Karte gilt nur für den Innenraum. Sie befinden sich drei Ringe davon entfernt.“

Ich habe das Ticket in aller Eile gekauft und muss wohl etwas verwechselt haben. Mit einem entwaffnenden Lächeln entgegnete ich: „Tut mir Leid. Ich kenne mich hier nicht so gut aus. Sicher kann ich bei Ihnen eine Karte kaufen?“

Beschwichtigend klimpere ich mit den Wimpern, die zu Ausgehzwecken sogar getuscht sind. Das lässt diesen grimmigen Typen völlig kalt. Seine Erscheinung erinnert mich an einen obdachlosen Weihnachtsmann. Die langen, ungepflegten Fingernägel umklammern klauenhaft meine Karte. Ich korrigiere: Das ist nicht der Weihnachtsmann, sondern der Grinch.

Wenn Kellerkinder bei der Bahn Karriere machen

„Ich bin dazu nicht befugt. Sie haben eine ungültige Fahrkarte“, schnarrt der Schaffner ungehalten. Ich spüre, wie es in mir zu Brodeln beginnt. Nicht zum ersten Mal mache ich die Bekanntschaft eines empathielosen Kontrolleurs. Weiß Gott, wo die Bahn solche Typen auftreibt. Aber offenbar haben Kellerkinder bei diesem Verein gute Karrierechancen. Im Sinne ihres Arbeitgebers zapfen sie die Lebensenergie der Fahrgäste für ihr eigenes Dasein an.

Ich kann die dunkle Aura, von der dieser Nihilist umgeben ist, förmlich spüren. Angeekelt wende ich mich ab. Daraufhin tritt der Schaffner näher an mich heran. „60 Euro bitte!“, krächzt er mit glimmenden Augen.

Es fällt mir schwer, standhaft zu bleiben. Wenn man nahe genug dran ist, kann die dunkle Seite der Macht merkwürdig verlockend sein. Gepresst bringe ich hervor: „Wir haben den Innenraum in wenigen Minuten erreicht, da kann man ja mal ein Auge zudrücken.“

Ich gehe zum Angriff über

Der Kontrolleur verlagert sein Gewicht so weit nach vorne, dass mir sein Todesatem in die Nase steigt. Er speit mich an mit den Worten: „Zeigen Sie mir sofort Ihren Ausweis!!“

Die anderen Fahrgäste geben sich unbeteiligt. Obwohl eine unheimliche Anspannung in der Luft liegt. Fast hätte ich kapituliert. Doch die Umstände wecken das schlafende Muttertier in mir. Und das verteidigt seinen kinderfreien Abend bis aufs Blut. Mit knirschenden Zähnen überlege ich mir eine Taktik. Was würde der Sohn jetzt tun?

Der Kontrolleur scharrt ungeduldig mit den Füßen und nimmt mich ins Visier. Seine Aggression ist nicht mehr so präsent. Vermutlich wähnt er sich bereits als Sieger. „Hören Sie mal…“, beginnt er in einem Anflug trügerischer Versöhnlichkeit. Doch ich bin schneller.

Zeigefinger trifft Uniform

Im Bruchteil einer Sekunde ist mir die Erleuchtung gekommen. Ein wahnsinniges Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit. „Jetzt hören SIE mal her“, frohlocke ich so energisch, dass es ihn von Kopf bis Fuß durchzuckt.

Nun habe ich seine volle Aufmerksamkeit. „Morgen, 15 Uhr. Bei mir Zuhause!“, trällere ich und bohre meinen Zeigefinger in seine Brust. Fassungslos starrt der Schaffner den Finger an, der immer noch unverschämten Kontakt mit seiner Uniform hält.

Bevor er die Kraft sammeln kann, einen vollständigen Satz zu formulieren, helfe ich ihm auf die Sprünge: „Meine Geburtstagsparty!“, schreie ich durch den ganzen Waggon. „Du bist herzlich eingeladen! Jeder soll eine Kleinigkeit zu Essen mitbringen – für den Rest ist gesorgt.“ Bei dem Wort „Rest“ zwinkere ich dem Kontrolleur verschwörerisch zu.

In die Flucht geschlagen

Irritiert weicht er einen Schritt vor mir zurück und stößt beinahe mit einem anderen Fahrgast zusammen. Dieser fordert, dem Theater ein Ende zu setzen. Jetzt ist der Schaffner völlig aus dem Konzept gebracht. Er will eine Entschuldigung stammeln, doch ich bin schon wieder schneller. Mit der nervtötenden Intonation eines Kleinkindes quäke ich: „Kommst du jetzt oder nicht? Ich muss das wissen wegen Pla-ha-nung!

Der Mann wird kreidebleich, lässt meine Fahrkarte fallen und macht auf dem Absatz kehrt. Im Laufschritt flieht er durch das Abteil.

„Hey!“, rufe ich ihm nach, „das ist aber nicht sehr höflich!“
Einen kurzen Moment hält er inne und dreht sich halb in meine Richtung um. Das nutze ich aus. „Bring Kartoffelsalat mit!“, trompete ich ihm entgegen. Von da an war der Schaffner nicht mehr gesehen.

Die Taktik des Sohnes ist erfolgreich

Den habe ich ordentlich bei den Hörnern gepackt. Seine finstere Wolke ist im Angesicht meines ultra-defensiven Exorzismus zusammengeschrumpft. Ich glaube, ich war mit mir nie zufriedener als in diesem Moment. Die Taktik des Sohnes hat ihre volle Wirkung entfaltet.

Dieser Abend muss gefeiert werden. Auf der Tanzfläche vollführe ich eine Art ekstatischen Affentanz. Meine Gliedmaßen wirbeln so unkontrolliert herum, dass die anderen Gäste einen Sicherheitsabstand zu mir einhalten müssen, um nicht unbeabsichtigte Ohrfeigen zu kassieren.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich ihre abschätzigen Blicke. Einer tippt sich an die Stirn und zeigt auf mich. Doch das ist mir herzlich egal. Ich begegne dem Ganzen mit der stoischen Gelassenheit eines Esels. Und jetzt sag noch einer, dass man von Kindern nichts lernen kann.

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

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Paula
Paula
5 Jahre zuvor

Ich liebe diese Geschichte! Du schreibst allgemein schön rund. Mit den Pointen am Schluss, Hammer!
LG Paula

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