Der Sohn und die Esel-Taktik

Der Sohn und die Esel-Taktik

Erstellt am 28/03/2019

Der Sohn ist ultra-defensiv. Und erfolgreich. Ich wende seine Taktik bei einem Schaffner an, indem ich einen spontanen Exorzismus durchführe. Dabei komme ich mit der dunklen Seite der Macht in Berührung.

Trotz Schuleintritt und den damit einhergehenden Hänseleien ist der Sohn erstaunlich unbedarft. Wenn ich ihn nach Unterrichtsschluss abhole und jemand im Vorbeigehen „Blödmann!“ oder Ähnliches ruft, zeigt das selbstbewusstes Kind keinerlei Reaktion.

Offenbar fehlt dem Sohn jegliches Verständnis dafür, dass ihn jemand nicht mögen könnte. In seiner Vorstellung existiert diese Option nicht. Ehrlich gesagt empfinde ich für diese Geisteshaltung heimliche Bewunderung. Davon würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden. 

Also tue ich es ihm nach und ignorierte die bösen Worte ebenfalls.  Bald darauf verlieren die Quälgeister das Interesse daran, den Sohn zu schikanieren. Macht ja auch keinen Spaß, wenn der Betreffende sich nicht einmal die Mühe gibt, ärgerlich auszusehen.  Diese Sozialstudie reizt mich – ich mache mir fleißig Notizen.

Der Sohn punktet mit stoischer Gelassenheit

Dabei stelle ich fest, dass der Sohn über die stoische Gelassenheit eines Esels verfügt. Da gibt es kein Durchkommen. Bei diesen hoffnungslosen Aussichten tun mir die kleinen Rowdies fast ein wenig Leid. 

Eines Tages wagen sie einen erneuten Anlauf. Ein rotwangiger Bengel mit ebenso rotem Schopf kommt nach Schulschluss direkt auf den Sohn zu, mustert abfällig dessen Tretroller und quiekt: „Mit sowas fahren nur bescheuerte kleine Babys!“

Einen kurzen Augenblick hoffe ich, das Kind würde seine professionelle Fassung verlieren und Kontra geben. Fehlanzeige. Seine Miene hellt sich auf: „Du bist zu meinem Geburtstag eingeladen“, teilte es seinem verdatterten Gegenüber mit. Dann schwingt es sich elegant wie eine Frau von Welt auf den Roller und fährt mir entgegen.

Ein Grundschul-Rowdy in der Sinnkrise

Mit offenem Mund starrt der Rotschopf dem Sohn hinterher, der mich bereits mit Plänen für seine anstehende Geburtstagsfeier bombardiert. Ich werfe dem Rüpel einen mitleidigen Blick zu. Er wirkt völlig verloren und seine Augen sind leer.  Es wirkt, als durchlaufe er seine allererste Sinnkrise. 

Auf dem Heimweg überlege ich, was da gerade geschehen ist. Und stelle fest, dass der Sohn über ultra-defensive Fähigkeiten verfügt. Und damit auch noch erfolgreich durchs Leben geht. Das, was gewaltfreie Kommunikatoren jahrelang einstudieren, hat dieses Kind ganz nebenbei verinnerlicht.

Ich beschließe, diese bemerkenswerte Technik in meinen Alltag zu integrieren. Die Gelegenheit hierzu bietet sich schneller als erwartet: Ich sitze im Zug Richtung München und blicke einem Abend mit Freunden entgegen. Durch das kontinuierliche Schaukeln der Waggons bin ich sehr entspannt.

Begegnung mit dem Fahrkarten-Grinch

Lässig ziehe ich mein Ticket aus der Tasche. Mein Schlafzimmerblick weicht ehrlicher Verwunderung, als der Schaffner unnötig lange darauf starrt.  Zwischen seinen borstigen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte, als er mir mitteilt: „Diese Karte gilt nur für den Innenraum. Sie befinden sich drei Ringe davon entfernt.“

Ich habe das Ticket in aller Eile gekauft und muss wohl etwas verwechselt haben. Mit einem entwaffnenden Lächeln entgegnete ich: „Tut mir Leid. Ich kenne mich hier nicht so gut aus. Sicher kann ich bei Ihnen eine Karte kaufen?“

Beschwichtigend klimpere ich mit den Wimpern, die zu Ausgehzwecken sogar getuscht sind. Das lässt diesen grimmigen Typen jedoch völlig kalt. Seine Erscheinung erinnert mich an einen obdachlosen Weihnachtsmann. Die langen, ungepflegten Fingernägel umklammern klauenhaft meine Karte. Ich korrigiere: Das ist nicht der Weihnachtsmann, sondern der Grinch.

Wenn Kellerkinder bei der Bahn Karriere machen

„Ich bin dazu nicht befugt. Sie haben eine ungültige Fahrkarte“, schnarrt der Schaffner ungehalten. Ich spüre, wie es in mir zu Brodeln beginnt. Nicht zum ersten Mal mache ich die Bekanntschaft eines empathielosen Kontrolleurs. Weiß Gott, wo die Bahn solche Typen auftreibt.

Vor siebzig Jahren hätte man derart verkommenes Pack aus Scham unter Verschluss gehalten. Nun ist es so, dass die ehemaligen Kellerkinder bei der Deutschen Bahn Karriere machen. Im Sinne ihres Arbeitgebers betreiben sie eine parasitäre Metamorphose, indem sie die Lebensenergie der Fahrgäste für ihr eigenes elendiges Dasein nutzen.

Ich kann die dunkle Aura, von der dieser soziopathische Nihilist umgeben ist förmlich spüren. Angeekelt wende ich mich ab. Daraufhin tritt der Schaffner näher an mich heran. „60 Euro bitte!“, krächzt er mit glimmenden Augen.

Das schlafende Muttertier erwacht

Es fällt mir schwer, standhaft zu bleiben. Wenn man nahe genug dran ist, kann die dunkle Seite der Macht merkwürdig verlockend sein. Gepresst bringe ich hervor: „Wir haben den Innenraum in wenigen Minuten erreicht, da kann man ja mal ein Auge zudrücken.“

Der Kontrolleur verlagert sein Gewicht so weit nach vorne, dass mir sein Todesatem in die Nase steigt. Speichel bleibt im Bart dieser Fleisch gewordenen Gotteslästerung hängen, als sie mich mit den Worten anspeit: „Zeigen Sie mir sofort Ihren Ausweis!!“

Die anderen Fahrgäste sind derweil tief in ihre Sitze gerutscht und geben sich unbeteiligt. Eine unheimliche Anspannung liegt in der Luft. Fast hätte ich kapituliert. Doch die widrigen Umstände wecken das schlafende Muttertier in mir. Das verteidigt seinen kostbaren kinderfreien Abend bis aufs Blut.

Ich nutze die Taktik des Sohnes und gehe zum Angriff über

Als ob ich mir die Stimmung von dieser uniformierten Mutante verderben lasse! Parallel zu diesen finsteren Gedanken bildet sich eine bläulich-pochende Ader an meiner Schläfe. Am liebsten hätte ich dem Fahrkarten-Grinch meinen ganzen Zorn entgegen gebrüllt, doch mein Verstand ist dafür zu gegenwärtig. Noch.

Wenn die Situation nicht eskalieren soll, muss ich mich irgendwie unter Kontrolle bekommen. Mit knirschenden Zähnen denke ich nach. Was würde der Sohn jetzt tun?

Der Kontrolleur scharrt ungeduldig mit den Füßen und nimmt mich ins Visier. Seine Aggression ist nicht mehr ganz so präsent. Vermutlich wähnt er sich bereits als Sieger. „Hören Sie mal…“, beginnt er in einem Anflug trügerischer Versöhnlichkeit. Doch ich bin schneller.

Die ultimative Party

Im Bruchteil einer Sekunde ist mir die Erleuchtung gekommen. Meine zusammengepressten Lippen sind einem nahezu wahnsinnigen Grinsen gewichen. Mit glänzenden Augen blicke ich zum Schaffner auf.  „Jetzt hören SIE mal her“, frohlocke ich so enthusiastisch, dass es ihn von Kopf bis Fuß durchzuckt.

Nun habe ich seine volle Aufmerksamkeit. „Morgen, 15 Uhr. Bei mir Zuhause!“, trällere ich und bohre meinen Zeigefinger in seine Brust. Fassungslos glotzt der Schaffner den Finger an, der immer noch unverschämten Kontakt mit seiner Uniform pflegt.

Bevor er die Kraft sammeln kann, einen vollständigen Satz zu formulieren, helfe ich ihm auf die Sprünge: „Meine Geburtstagsparty!“, schreie ich durch den ganzen Waggon. „Du bist herzlich eingeladen! Jeder soll eine Kleinigkeit zu Essen mitbringen – für den Rest ist gesorgt.“ Bei dem Wort „Rest“ zwinkere ich dem Kontrolleur verschwörerisch zu.

Nervtötend wie ein Kleinkind

Höchst irritiert weicht er einen Schritt vor mir zurück und stößt beinahe mit einem anderen Fahrgast zusammen. Dieser erwidert ärgerlich: „Geht das nochmal weiter hier?! Was soll das Theater?“ Jetzt ist der Schaffner völlig aus dem Konzept gebracht. Er will eine Entschuldigung stammeln, doch ich bin schon wieder schneller.

Mit der nervtötenden Intonation eines Kleinkindes quäke ich: „Kommst du jetzt oder nicht? Ich muss das wissen wegen Pla-ha-nung!“ Der Mann wird kreidebleich, lässt meine Fahrkarte fallen und macht auf dem Absatz kehrt. Im Laufschritt flieht er durch das Abteil.

„Hey!“, rufe ich ihm nach, „das ist aber nicht sehr höflich!“
Einen kurzen Moment hält er inne und dreht sich halb in meine Richtung um. Das nutze ich aus. „Bring Kartoffelsalat mit!“, trompete ich ihm entgegen. Von da an wurde der Schaffner nicht mehr gesehen.

Mein Exorzismus ist erfolgreich – der Sohn wäre stolz auf mich

Den habe ich ordentlich bei den Hörnern gepackt. Seine finstere Schmarotzerwolke ist im Angesicht meines ultra-defensiven Exorzismus zu einem lauen Lüftchen zusammengeschrumpft. Ich glaube, ich war mit mir selbst nie zufriedener als in diesem Moment.

Die Taktik des Sohnes hat ihre volle Wirkung entfaltet. Meine Freunde empfange ich am Bahnhof mit einem strahlenden Lächeln. Dieser Abend muss gefeiert werden. Auf der Tanzfläche vollführe ich eine Art ekstatischen Affentanz. Meine Gliedmaßen wirbeln so unkontrolliert herum, dass die anderen Gäste einen Sicherheitsabstand zu mir einhalten müssen, um nicht unbeabsichtigte Ohrfeigen zu kassieren.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich ihre abschätzigen Blicke. Einer tippt sich an die Stirn und zeigt auf mich. Doch das ist mir herzlich egal. Ich begegne dem Ganzen mit der stoischen Gelassenheit eines Esels. Und jetzt sag noch einer, dass man von Kindern nichts lernen kann.

Autor: Constanze Wilz

Ich bin die Anti-Heldin unter den Müttern.
Kuchen backe ich mit Wut statt Liebe, Bügeln halte ich für einen Mythos und ohne meinen Kuschelhund kann ich nicht einschlafen.
Statt einem inneren Kind habe ich einen inneren Kinski.

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Paula
Paula
4 Jahre zuvor

Ich liebe diese Geschichte! Du schreibst allgemein schön rund. Mit den Pointen am Schluss, Hammer!
LG Paula

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